Signet Gartengestaltung, Hausgärten, Gartenanlagen und Pflanzplanung Signet Christina Dorsch

05. Oktober 2021 – shifting-baselines-syndrome

Gedanken zum Schutz von Landschaften

Wahrnehmung von Veränderung

Ich möchte auf einen Begriff eingehen, der mir vor Kurzem bei einem Online-Seminar zum Insektensterben begegnet ist: shifting-baselines-syndrome. Der Begriff ist nicht neu und kommt aus der Umweltforschung. Er bezeichnet unterschiedliche Vergleichsmaßstäbe für die Wahrnehmung von Veränderung. Das spielt zum Beispiel eine Rolle, bei der individuellen und gesellschaftlichen Wahrnehmung der Veränderung der Landschaft für bestimmte Generationen.

Naturlandschaft – Kulturlandschaft

Auch die unzugänglichsten Landschaften in Europa, z.B. manche abgelegenen Bereiche im Gebirge, die im ersten Augenblick wild und natürlich erscheinen, sind über lange Zeiträume hinweg menschlich überformt. Würde in einem mitteleuropäischen Landschaftraum außerhalb der Gebirge die natürliche Sukzession vom Menschen unbeeinflusst ablaufen, würde sich, vereinfacht gesagt eine Brachfläche zu einem Urwald entwickeln, möglicherweise über die Stadien Unkrautflur, Wiese, Hochstaudenflur, lockeres Gebüsch, dichtes Gebüsch, Pionierwald, Wald. Störungen wären zum Beispiel partielle Überflutungen oder Brände, die zu neuen Lichtungen führen würden, wo die Sukzession von neuem startet. Wir sprechen in Mitteleuropa nicht von Naturlandschaften, sondern von Kulturlandschaften. Bestimmte langfristige, wenig bis mittel intensive Landnutzungen, wie zum Beispiel die Beweidung haben zu abwechslungsreichen Landschaftsräumen geführt, ein kleinräumig wechselndes Mosaik aus offenen Partien, Gebüschen, Wäldchen, durchzogen von Gewässern, ausgestattet mit  einer hohen Vielfalt an Pflanzen und Tieren. Diese Kultur-Landschaft ist bei sehr vielen Menschen abgespeichert als ‚Natur‘.

Individuelle Wahrnehmung von Landschaft

Gefragt, wie sich die Landschaft verändert hat, würde ich als Individuum, das in der Nähe von Rhein und Neckar aufgewachsen ist, zum Beispiel sagen, dass der Zustand der Flüsse in meiner Kindheit katastrophal war, es heute immerhin wieder Fische darin gibt. Hätte man meinen Großvater gefragt, dann hätte er gesagt, dass er im Neckar schwimmen gelernt hat und es darin so viel Lachs gab, dass dies ein arme Leute Essen war. Welchen Vergleichs-Maßstab für die Wahrnehmung und Beschreibung der Veränderung der Landschaft legen wir zugrunde? Unsere eigene Erinnerung? Die unserer Eltern? Großeltern, Urgroßeltern  ….? Die gute alte Zeit – wann genau war die eigentlich? Gab es sie überhaupt? Arkadien, die ländliche Idylle, das Auenland, der verwunschene Garten, wir haben eigene Erinnerungen an die Landschaften unserer Kindheit und wir tragen lebhafte Bilder von idealisierten Landschaften in uns, die wir selbst nie mit eigenen Augen gesehen haben. Welchen Landschaftszustand kann man sinnvollerweise mit dem heutigen vergleichen, um zu sagen, die Vielfalt der Flora und Fauna hat abgenommen oder zugenommen, heute ist es so, es war so in der Vergangenheit, so soll es in der Zukunft aussehen?

Wo wollen wir hin?

Wohlgemerkt geht es mir an dieser Stelle nicht um wissenschaftliche Untersuchungen bezüglich der Quantifizierung Arten- und Biotopsterbens, des Zustandes der natürlichen Lebensräume, sondern um deren Wahrnehmung. Aus dieser Wahrnehmung heraus leiten wir als Individuum und in der Summe als Gesellschaft unsere Bereitschaft ab zu handeln. Und wir müssen uns als Gesellschaft darauf einigen, welche Maßstäbe wir anlegen, um zu entscheiden, ob eine Veränderung hinnehmbar ist, oder nicht. Wir müssen uns fragen, ob wir uns nicht auf unheilvolle Art und Weise damit abfinden, dass es still ist im Frühling (Silent Spring, Rachel Carson, 1962), wenn keine Vögel zwitschern und keine Insekten summen, weil es schon solange wir leben zu still ist. Dass wir eine Ansammlung von Bäumen Wald nennen, obwohl es kein Exemplar darin gibt, das älter als 60 Jahre ist, und man an jedem Standort im Wald eine Straße hört. Wir müssen uns auch fragen, welche Ziele wir haben beim Umweltschutz, sprich welche Vergleichs-Maßstäbe wir ansetzten, um Handlungsstrategien entwickeln zu können. Wo wollen wir hin? In welcher Umwelt wollen, bzw. können wir leben? Wo wir herkommen ist vielfältig und unterschiedlich, es gab die verschiedenen Landschaften unserer Vorfahren – gibt es einen vergangenen Zeitraum, der sich als Maßstab dazu eignet, den momentanen Zustand der Landschaften und der Umwelt damit zu vergleichen, oder ist der ’shifting baselines‘ Ansatz eine Möglichkeit den Vergleichs-Maßstab für die Zielentwicklung im Landschafts- und Umweltschutz zu finden?

Ziele

Mit diesem Exkurs möchte ich zum Ausdruck bringen, dass wir ein breites und fundiertes Wissen um die natürlichen Vorgänge und Zusammenhänge, die ziemlich komplex sind, brauchen, um die richtigen Entscheidungen im Umweltschutz treffen zu können und vor allem darf die Zielformulierung nicht vage sein, sondern muss gründlich und differenziert erarbeitet werden. Mit dem Aufstellen von Hochbeeten und Insektenhotels, wird weder das Insektensterben aufgehalten, noch die Erderwärmung gestoppt.

 

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Entwurf: Christina Dorsch

Realisierung: Thomas Borghoff